
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs kamen täglich viele Flüchtlinge an die Grenze Schaanwald–Tisis, um in Liechtenstein oder in der Schweiz Zuflucht zu suchen. Sie wurden von freiwilligen Helferinnen und Helfern versorgt, unter ihnen auch Fürstin Gina von Liechtenstein. Die Hilfe an der Grenze veranlasste die Fürstin, das Liechtensteinische Rote Kreuz zu gründen.
Text: Günther Meier
Kriege bringen grosse Not und viel Leid für die Zivilbevölkerung. Liechtenstein war im Zweiten Weltkrieg von kriegerischen Auseinandersetzungen verschont geblieben, aber der Flüchtlingsstrom an der Grenze zeigte auf, welchen Entbehrungen und Ängsten die Geflüchteten ausgesetzt waren. Das «Liechtensteiner Volksblatt» war in den letzten Apriltagen am Grenzübergang Schaanwald-Tisis und berichtete von den Flüchtlingen, die ein sicheres und kriegsverschontes Land suchten: «Was da für Elend über unsere Grenze gezogen kam, ist kaum zu glauben. Wer es nicht selbst gesehen hat, kann sich keinen Begriff davon machen.» Unter den Flüchtlingen machte der Berichterstatter ganz unterschiedliche Menschen aus, die aber alle den gleichen Wunsch nach Sicherheit hatten: «Neben Fremdarbeitern in zerfetzten Kleidern und abgetragenen Uniformstücken standen Frauen aus ehemals guten Verhältnissen, die noch als einziges Stück ihres Reichtums vielleicht einen Pelzmantel zu retten vermocht hatten, zur Suppenentgegennahme an. Sie waren alle vom gleichen Gedanken beseelt: Hinaus aus der Hölle!» Die liechtensteinische Regierung reagierte mit Soforthilfe auf das Flüchtlingselend, unterstützt von vielen freiwilligen Helferinnen und Helfern, die Suppe kochten, Trost an die Verzweifelnden spendeten, Lebensmittel für die Weiterreise in die Schweiz ausgaben.

Von der Spontanhilfe zur Gründung des Roten Kreuzes
Unter den zahlreichen Helferinnen war auch Fürstin Gina, die nicht nur spontane Hilfe leistete, sondern vom Gedanken an den Aufbau einer Hilfsorganisation getragen wurde. Die Hilfsbereiten seien von der Fürstin aufgemuntert und angespornt worden, weiter zu helfen, wie die Zeitung berichtete: «Höchstpersönlich greift sie ein, bald hier, bald dort, teilt Gaben aus und spricht gütige und freundliche Worte zu den Armen. Das Land, die ganze Bevölkerung ist stolz auf die edle hohe Frau, die so gütig und hilfsbereit den Menschen beisteht.» Von dieser Hilfsbereitschaft war es nur ein kleiner Schritt bis zur Gründung des Liechtensteinischen Roten Kreuzes, die von der Fürstin mit tatkräftiger und finanzieller Unterstützung durch Fürst Franz Josef II. vorbereitet wurde.
Eine Kundmachung in den liechtensteinischen Zeitungen machte die Bevölkerung darauf aufmerksam, dass am 30. April 1945 die Gründung des Liechtensteinischen Roten Kreuzes erfolgt war: «Vom Wunsch unseres verehrten Fürsten ins Leben gerufen, geleitet von unserer geliebten Landesmutter, Fürstin Georgine, und anerkannt von der Fürstlichen Regierung, bildete sich in diesen Notlagen eine liechtensteinisch-nationale Gesellschaft vom Roten Kreuz. Gleich ihren Schwestergesellschaften anderer Länder will sie im Krieg wie im Frieden im Sinne und im Zeichen des Roten Kreuzes der Not entgegentreten, wo und wie immer sie sich zeige.» Begleitet war die Kundmachung vom Aufruf, Mitglied des Roten Kreuzes zu werden. Angesichts der Flüchtlinge und des Elends überall nach dem Krieg werde die Hilfsorganisation noch lange eine wichtige Aufgabe zu erfüllen haben, blickte das Rote Kreuz in die damals nicht sehr hoffnungsfrohe Zukunft.
Um Geldspenden zu erhalten, organisierte das Rote Kreuz ein Wohltätigkeitskonzert in Vaduz, das von der Harmoniemusik, dem Kirchenchor und dem Sängerbund musikalisch gestaltet wurde. Obwohl die Bevölkerung aufgrund der schlechten Wirtschaftslage und den Auswirkungen des Weltkrieges nicht auf Rosen gebettet war, kam für die damaligen Verhältnisse ein ansehnlicher Spendenbetrag zusammen: Fürstin Gina bedankte sich öffentlich in einem Zeitungsbeitrag für die grosszügigen Spenden. Dank einer zusätzlichen Zuwendung der Gemeinde Vaduz waren 2566,95 Franken eingegangen.
Enge Zusammenarbeit mit der Schweiz
An einer Veranstaltung aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des Roten Kreuzes erinnerte Heinz Batliner, der von 1968 bis 1992 die Funktion als Generalsekretär ausübte, an die Situation am Kriegsende in Schaanwald und an den Anlass zur Gründung der Hilfsorganisation: «In den letzten Kriegstagen suchten dort Tausende von Flüchtlingen Hilfe. Jenseits des Stacheldrahtes standen Menschen, denen der Hunger und die Schrecken des Krieges ins Gesicht geschrieben stand, Menschen, die oft schon während Monaten auf der Flucht waren und denen nichts geblieben war als das, was sie auf dem Leibe trugen. Allein am 1. Mai 1945 registrierte man über 1100 Grenzübertritte von Flüchtlingen, und insgesamt kamen in jenen Tagen über 7000 Flüchtlinge nach Liechtenstein – mehr als die Hälfte der damals 12’000 Einwohner zählenden Bevölkerung.»
Für die meisten Flüchtlinge war nicht Liechtenstein, sondern die Schweiz das Ziel. Liechtenstein und die Schweiz trafen am 27. April 1945 eine Vereinbarung über den Umgang mit Flüchtlingen. Allgemein galt demnach, dass für die Aufnahme und für die Rückweisung von Flüchtlingen in Liechtenstein die gleichen Bestimmungen gelten sollen wie an der Grenze zur Schweiz. Die liechtensteinischen Hilfspolizisten wurden zum Grenzschutz eingesetzt, unterstanden jedoch den Grenzwachtorganen der Schweiz. Liechtenstein erklärte sich bereit, zur Sicherung der Grenzen geeignete Drahtverhaue aufzustellen. Flüchtlinge, die nach einer Kontrolle an der Grenze nicht sofort zurückgewiesen wurden, mussten an das Schweizer Territorialkommando in Buchs überwiesen werden.
Bauamt errichtete Notunterkunft an der Grenze
Wie es an der Grenze in Schaanwald bei der Kontrolle, Übernahme und Abweisung von Flüchtlingen ausgesehen hat, schilderte ein Berichterstatter im Volksblatt: «Von Schaanwald werden die Flüchtlinge mittelst der Bahn und im Bedarfsfalle mittelst Camions nach Buchs in die Sammelstelle überführt. Infolgedessen gibt es immer wieder längere Wartezeiten hinter unserer Landesgrenze für jene Flüchtlinge, die die Kontrolle passiert haben, aber noch auf den Zug warten müssen. Aus diesem Grund wurde vom fürstlichen Bauamt ein kleiner Lagerplatz mit Baracken und Sitzgelegenheit hergerichtet, um den Leuten die Wartezeit etwas angenehmer zu gestalten.» Was laut «Volksblatt» noch fehlte, nämlich die Verpflegung der Flüchtlinge, wurde aber relativ rasch ebenfalls organisiert. Pfadfinder brachten Wasserkessel und Essgeschirr, sodass bald die ersten Hungrigen mit Suppe verpflegt werden konnten: «Welch eine Freude für alle Heimatlosen, als sie nach Betreten freien, neutralen Bodens noch mit einer warmen und kräftigen Suppe gespeist wurden.» Fürstin Gina brachte laut Bericht «eine grosse Menge weiterer Lebensmittel mit, vor allem auch Brot, das nun auch zur Suppe gereicht werden konnte».
Nicht alle Flüchtlinge konnten den Transport mit Bahn oder Lastwagen in Anspruch nehmen. Wie das «Volksblatt» berichtete, haben beim ersten Flüchtlingsstrom Ende April 1945 viele Flüchtlinge zu Fuss das Flüchtlingslager in Buchs aufgesucht: «Flüchtlinge aus dem Reich stauen sich nun auch an der Grenze in Schaanwald. Am Mittwochabend kam ein Transport von 30 Flüchtlingen zu Fuss in Schaan an. Jedes trug seine Habseligkeiten mit sich in einem Bündel, in einem Kistchen oder wie es sich gerade gab. Wir sahen darunter noch ordentlich gekleidete Männer und Frauen, den Kleidern der anderen sah man die durchgestandenen Nöte und Strapazen an. Die verhärmten Gesichter hellten sich auf im Marsch durch unser Land, es winkte ja die Freiheit.» Eine andere Flüchtlingsgruppe, etwa 100 Personen, wurde berichtet, sei singend den Weg durch Schaan nach Buchs gegangen –
fröhlich der Freiheit entgegen.

SgAV 01 N 012/028-033; Fotograf / Künstler: Wachter, Walter / Schaan; Quelle: Liechtensteinisches Landesarchiv / Vaduz
Auch KZ-Häftlinge kamen über die Grenze
Aber nicht nur Frauen und Männer kamen, die vor den nachrückenden alliierten Truppen geflüchtet waren, sondern auch KZ-Häftlinge, die das Grauen überlebt hatten. Das «Volksblatt» berichtete über diese bedauernswerten Leute: «Dienstag, den 1. Mai, kamen erstmals Insassen des Konzentrationslagers Dachau. Körperlich und seelisch in einem unbeschreiblichen Zustand … Die Leute hielten sich eng beisammen und nahmen von der Umgebung kaum Notiz. Elendsgestalten, die Zeugnis ablegten von den ihnen von Untermenschen angetanen körperlichen und seelischen Qualen. Es war uns ein Rätsel, wie diese Leute nur unsere Grenze lebend erreichen konnten. Sie blieben liegen, wo man sie hinlegte und waren zufrieden, nur keine Gestapo mehr zu sehen. Ihre grün- und blaugestreiften dünnen Gewandungen umbauschten die zu Skeletten abgemagerten Gestalten … Eine später aus den Konzentrationslagern anlangende Gruppe war besser erhalten. Ihre Gewandung war blau-weiss gestreift. Sie versicherten, dass die Leiden des Konzentrationslagers eigentlich nicht zu schildern seien. Sie froren in ihren dünnen Gewändern, wir hörten aber keine Klagen. Das Wissen, dass sie der Hölle der Konzentrationslager entronnen seien, gute Worte, ein mit Liebe gereichtes Essen waren ihnen reichliches Glück.»
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