30 Jahre im EWR: Der EWR ist für Liechtenstein auch in Zukunft die beste Option

Regierungschef Hans Brunhart beim Unterzeichnen des EWR-Abkommens. 02.0.1992; B 254/023/013; Liechtensteinisches Landesarchiv/Vaduz

Das liechtensteinische Stimmvolk hat 1992 erstmals dem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zugestimmt. Drei Jahre später, nachdem der Zollvertrag mit der Schweiz angepasst worden war, bestätigten die Stimmberechtigten ihre frühere Entscheidung. Die Bilanz der Regierung fällt nach 30 Jahren EWR-Mitgliedschaft sehr positiv aus.

Text: Günther Meier

Der 1. Mai 1995 gehört zu den bedeutenden Daten in der Wirtschaftsgeschichte des Fürstentums Liechtenstein. An diesem Tag erfolgte der offizielle Beitritt des Landes zum Europäischen Wirtschaftsraum. Im EWR sind die 27 Mitglieder der EU und die drei EWR/EFTA-Staaten Liechtenstein, Island und Norwegen in einem Binnenmarkt zusammengeschlossen. Die Bilanz der Regierung über die EWR-Mitgliedschaft fällt, wie bereits bei Stellungnahmen und Berichten bei «runden Jahreszahlen», auch bei einem Rückblick auf die vergangenen 30 Jahre Zusammenarbeit im Binnenmarkt positiv aus. Laut Umfragen in der Bevölkerung und bei den Wirtschaftsverbänden wird die EWR-Mitgliedschaft gut bewertet: Der EWR sei für Liechtenstein auch in Zukunft die beste Option in der Integrationspolitik. Laut dem neuesten Bericht der Regierung «30 Jahre Mitgliedschaft des Fürstentums Liechtenstein im Europäischen Wirtschaftsraum» rufe der EWR bei 80 Prozent der befragten Personen ein sehr oder ziemlich positives Bild hervor. Über 80 Prozent bewerten das EWR-Abkommen als gutes und wichtiges Abkommen für Liechtenstein. Diese Einschätzungen werden von der Wirtschaft noch überboten: Nicht weniger als 89 Prozent der Industriebetriebe und 92 Prozent der Banken haben eine positive Meinung von der EWR-Teilnahme. Auch weitere Unternehmen im Bereich der Finanzdienstleistungen und 69 Prozent der Mitglieder der Wirtschaftskammer sehen die EWR-Auswirkungen als eher oder gar als sehr positiv.

Unterschiedliche Auffassungen von Fürst und Regierung
Ein Rückblick in die EWR-Geschichte Liechtensteins zeigt, dass die Einschätzungen der Bevölkerung und der Wirtschaft seit den kontroversen Diskussionen über die Integrationspolitik im Vorfeld der ersten EWR-Abstimmung im Jahr 1992 erhebliche Veränderungen erfahren haben. Sowohl in der Bevölkerung als auch innerhalb der Wirtschaftsverbände hat die Zustimmung zum EWR in den vergangenen dreissig Jahren erheblich zugenommen. Seit Jacques Delors als Präsident der Europäischen Kommission in der Mitte der 1980er-Jahre zu einer Vertiefung der europäischen Integration aufgerufen und die Schaffung eines Binnenmarktes in Europa angeregt hatte, befasste sich auch Liechtenstein mit der Teilnahme an einem solchen Markt mit freiem Waren- und Personenverkehr. Die Regierung unter Regierungschef Hans Brunhart zeigte sich offen für eine Mitgliedschaft in einem Wirtschaftsraum, der ganz Europa umfassen sollte. Allerdings mit einem Vorbehalt: Liechtenstein dürfe den Weg nach Europa nicht im Alleingang beschreiten, sondern in enger Abstimmung mit dem Zollvertragspartner Schweiz. Als es in der Schweiz und in Liechtenstein um die Frage ging, das Volk über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum abstimmen zu lassen, stellte sich die Regierung auf den Standpunkt, eine Volksabstimmung dürfe deshalb erst nach der Volksentscheidung in der Schweiz stattfinden.

Im Unterschied dazu forderte Fürst Hans-Adam II. eine eigenständigere Aussen- und Europapolitik, was bedeutete, die EWR-Entscheidung unabhängig von der Schweiz zu treffen. Schon in seiner berühmten «Rucksack-Rede» 1970 hatte er gefordert, zu jener Zeit noch Erbprinz, aussenpolitisch auf eigenen Beinen zu stehen und nicht im bequemen Rucksack der Schweiz zu verharren. Der Fürst war schon beim Beitritt zur UNO der Auffassung, nur ein eigenständiges Auftreten in der globalen Gemeinschaft sichere langfristig die Souveränität des Landes. Mit seinem beharrlichen Eintreten für den UNO-Beitritt, ohne Rücksicht auf die UNO-Politik der Schweiz, hatte er Erfolg: Liechtenstein wurde 1991 als 160. Mitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen. Ein ähnliches Vorgehen schwebte Hans-Adam II. beim EWR-Beitritt vor. In seiner Thronrede 1992 betonte er, weil der EWR-Vertrag für Liechtenstein so wichtig sei, «wäre es meiner Ansicht nach ein Fehler, unsere Zustimmung von der Entscheidung der Schweiz abhängig zu machen». Ganz besonders, weil die Schweiz bereits ein Gesuch um einen EU-Beitritt in Brüssel gestellt hatte. Es wäre durchaus denkbar, dass die Schweiz dem EWR-Beitritt eine Absage erteile, kurze Zeit später jedoch der EU-Mitgliedschaft zustimme – was für Liechtenstein nicht grössenverträglich wäre.

Staatskrise 1992 wegen EWR-Abstimmungstermin
Die Regierung widersetzte sich der Forderung nach einer EWR-Abstimmung vor der Schweiz, was im Oktober 1992 eine Staatskrise heraufbeschwor, die aber mit einem Kompromiss beigelegt werden konnte. Der Fürst hatte der Regierung das Ultimatum gestellt, auf seine Forderung einzugehen, andernfalls werde er die Regierung entlassen und den Landtag auflösen. Wie er später in einem Interview darlegte, sei er entschlossen gewesen, die Regierung abzusetzen, Neuwahlen anzuordnen und bis zur Konstituierung eines neuen Parlaments und einer neuen Regierung selber als «Regierungschef ad interim» die Regierungsgeschäfte zu führen. Dieses Szenario blieb Liechtenstein erspart, nachdem ein vom früheren Regierungschef Gerard Batliner gebildetes «Überparteiliches Komitee für Monarchie und Demokratie» auf Schloss Vaduz einen Kompromiss aushandeln konnte: Der Fürst erklärte sich mit der Volksabstimmung erst nach der Schweiz einverstanden, während sich die Regierung verpflichtete, die Stimmberechtigten zu einem Ja für den EWR-Beitritt aufzufordern. Das Abstimmungsresultat am 13. Dezember 1992 fiel im Sinne des Fürsten aus: Obwohl die Schweiz eine Woche zuvor dem EWR-Beitritt eine Abfuhr erteilt hatte, stimmte Liechtenstein der EWR-Mitgliedschaft zu und damit auch der vom Fürsten geforderten, von der Schweiz unabhängigen Aussenpolitik.

Sonderlösung zur Beschränkung des freien Personenverkehrs
Die zweite Volksabstimmung vom 7./9. April 1995 wurde nach dieser Entscheidung eigentlich zur Formsache, insbesondere auch, weil die Schweiz ihre Zustimmung zur Anpassung des Zollvertrags gegeben hatte. Fürst Hans-Adam II. erklärte später in einer Stellungnahme, er habe mit der schweizerischen Regierung, insbesondere mit Bundesrat Delamuraz, in Gesprächen eine Lösung erarbeitet, damit Liechtenstein dem EWR beitreten könne, ohne den Zollvertrag zu kündigen. In Verhandlungen wurde das Modell der «parallelen Verkehrsfähigkeit» entwickelt: Liechtenstein erhielt die Möglichkeit, Waren entweder nach dem EWR-Standards oder den Schweizer Produktestandards in Verkehr zu setzen. Ausserdem blieb die enge wirtschaftliche Anbindung an den schweizerischen Währungsraum erhalten. Im heikelsten EWR-Bereich, dem freien Personenverkehr, konnte Liechtenstein auch mit der EU eine Sonderlösung vereinbaren: Aufgrund der Kleinheit des Landes muss Liechtenstein nur 56 Bewilligungen für Erwerbstätige und 16 Bewilligungen für Nichterwerbstätige erteilen.

Spezielles Modell: EWR-Teilnahme und Zollvertrag mit der Schweiz
Aufgrund dieser Ausgangslage und der positiven Entwicklung in den vergangenen drei Jahrzehnten ist es nicht verwunderlich, dass der EWR-Beitritt für Liechtenstein von einer satten Mehrheit der Bevölkerung und den Unternehmen als beste Option der Integrationspolitik eingeschätzt wird. Mit der gleichzeitigen Zugehörigkeit zu zwei Wirtschaftsräumen, zum EWR unter Beibehaltung der Zoll- und Währungsunion mit der Schweiz, ist ein spezielles Modell entwickelt worden. Das Modell hat sich bisher als sehr tragfähig erwiesen, auch wenn die Verpflichtung zur laufenden Übernahme von EU-Rechtsakten bisweilen mit Schwierigkeiten verbunden ist. Die von Teilen der Wirtschaft im Vorfeld der zwei EWR-Abstimmungen angeführten Vorbehalte sind in der Zwischenzeit entkräftet worden. Die Unternehmen schätzen den Marktzugang zum EU-Binnenmarkt und die Rechtssicherheit im EWR-Raum.

Auf eine kurze Formel gebracht, lautet die weit übereinstimmende Einschätzung der Wirtschaft: «Der EWR ist ein Erfolgsmodell für Liechtenstein!»