Liechtenstein ist in früheren Jahren bezüglich Erfolge auf internationalem Parkett verwöhnt worden. Medaillen und Triumphe bei Grossanlässen, vor allem im alpinen Skisport, waren fast an der Tagesordnung. Seit einiger Zeit aber müssen die Liechtensteiner Athletinnen und Athleten kleinere Brötchen backen, Topergebnisse auf höchstem Niveau bleiben praktisch aus. Woran liegt das? Fehlt es an den Talenten oder darf man aufgrund der Kleinheit des Landes nicht zu viel erwarten?

Interview: Christoph Kindle

Der Präsident des Liechtenstein Olympic Commitee (LOC), Stefan Marxer, nimmt im Interview ausführlich Stellung zur aktuellen Situation des Sports in Liechtenstein.

18 Medaillen zuletzt an den Kleinstaatenspielen in Andorra sind zweifellos erfreulich, doch bei internationalen Grossanlässen kann Liechtenstein nicht mehr an frühere Erfolge anknüpfen. Wo siehst du die Gründe dafür?
Stefan Marxer: 18 Medaillen an den Kleinstaatenspielen sind ein schöner Erfolg, vor allem weil fast jeder dritte Athlet eine Medaille gewinnen konnte. Das zeigt, dass wir in unserem Umfeld konkurrenzfähig sind. Gleichzeitig müssen wir realistisch bleiben: Auf der internationalen Bühne können wir derzeit nicht mehr an die grossen Erfolge der Vergangenheit anknüpfen. Ein zentraler Grund ist die demografische Realität. Mit rund 30’000 Staatsangehörigen ergibt sich rein rechnerisch eine sehr kleine Basis für potenzielle Spitzensportlerinnen und -sportler. Pro Jahrgang sind das maximal neun Talente, die theoretisch das Potenzial für internationale Spitzenleistungen mitbringen. Vor diesem Hintergrund ist jeder internationale Erfolg eine Sensation. Dass wir trotzdem Erfolge feiern können – wie die Qualifikation unseres Artistic Swimming Duetts für die Olympischen Spiele, Julia Hasslers starken zwölften Platz in Tokyo oder die EM-Medaillen und Weltcup-Siege der Kickboxer – ist beachtlich, aber nicht selbstverständlich.

«Jeder internationale Erfolg eine Sensation»

Hinzu kommt: Die internationale Sportwelt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark professionalisiert. Während andere Länder ihre Fördersysteme massiv ausgebaut haben, kämpfen wir als Kleinstaat mit den natürlichen Grenzen. Mit der Anpassung der Sportschule, Teilanstellungen für Athletinnen und Athleten sowie besserer medizinischer Betreuung sind wichtige Fortschritte gemacht worden – aber sie bedeuten lediglich das Aufholen von Standards, die anderswo längst etabliert sind. Wir haben in den vergangenen Jahren gezielt daran gearbeitet, strukturelle Lücken zu schliessen. Aber wenn wir nicht weiter Gas geben, werden wir künftig noch weniger Chancen haben, uns international durchzusetzen. Die entscheidende Frage ist nicht, ob wir noch Erfolge feiern können, sondern wie wir sie ermöglichen. Dafür brauchen wir die Unterstützung der Politik und der Verbände. Es braucht ein Umdenken in der Gesellschaft. Leistungssport ist kein Selbstläufer. Er erfordert langfristige Investitionen, professionelle Rahmenbedingungen und ein gesellschaftliches Verständnis dafür, dass hinter jeder Medaille jahrelange Arbeit steckt – von Athletinnen und Athleten, Trainerinnen und Trainern sowie vielen Menschen im Hintergrund. Leistungssport ist heute kein ambitioniertes Hobby mehr, sondern ein knallharter Job, der einem körperlich, mental und organisatorisch alles abverlangt. Wer international mithalten will, braucht nicht nur Talent, sondern ein Umfeld, das Höchstleistung ermöglicht. Wir sind auf einem guten Weg, aber es liegt noch viel Arbeit vor uns.

An der finanziellen Förderung dürfte es nicht fehlen. Das LOC wird vom Staat grosszügig unterstützt. Fehlt es momentan an herausragenden Talenten oder sind die Athletinnen und Athleten zu schnell zufrieden?
Den Vorwurf, unsere Athleten seien zu schnell zufrieden, weise ich entschieden zurück. Wer sich ansieht, welche Opfer diejenigen, die es wirklich ernst meinen, erbringen – Lebenspläne, die sie dem Sport unterordnen, Ausbildungen, die sie verschieben, finanzielle Unsicherheiten, die sie in Kauf nehmen –, der weiss: Es geht um alles andere als Zufriedenheit. Unsere Sportlerinnen und Sportler kämpfen jeden Tag um jeden Zentimeter, jede Sekunde, jeden Punkt. Dass sie das tun, verdient höchsten Respekt.

Auch am Talent liegt es nicht. Die Herausforderung liegt vielmehr darin, sie geduldig und professionell auf ihrem Weg in die Weltspitze zu begleiten. Dafür braucht es auch das Kommittent des ganzen Landes. Spitzensport sollte als Beruf anerkannt werden, nicht als ambitioniertes Hobby, sondern als das, was er heute ist: ein knallharter Job, der körperlich, mental und organisatorisch alles abverlangt.

«Spitzensport als Beruf anerkennen»

Die Investitionen in Strukturen wie die Sportschule, medizinische Abteilungen, Leistungsdiagnostik und Athletiktraining sind wichtige Schritte, deren Wirkung sich erst in den kommenden Jahren entfalten wird. Was darüber hinaus notwendig ist, sind bessere infrastrukturelle Rahmenbedingungen sowie internationale Trainingsmöglichkeiten – etwa Sparring mit Weltklasse-Athletinnen und -Athleten, um sich zu messen und daran zu wachsen. Diese Massnahmen sind jedoch mit höheren Kosten für Verbände und Athleten verbunden.

Gleichzeitig dürfen wir uns nichts vormachen: Die Konkurrenz ist heute grösser denn je. Während wir in Liechtenstein mit einer Handvoll potenzieller Spitzenathleten pro Jahrgang arbeiten, verfügen andere Länder nicht nur über mehr Talente, sondern auch über deutlich mehr Ressourcen, um sie zu fördern. Die Leistungsdichte im internationalen Sport ist enorm – wer dort mithalten will, braucht nicht nur Talent und Einsatz, sondern auch ein System, das alle verfügbaren Ressourcen nutzt. Dass der Staat und die Gemeinden den Sport grosszügig unterstützen, ist richtig und wichtig. Dennoch müssen wir ehrlich sein: Im Vergleich zu anderen Ländern, die ihre Athleten mit Millionenbudgets, hochprofessionellen Strukturen und Infrastrukturen sowie langfristigen Karriereplänen ausstatten, hinken wir in einigen Bereichen noch hinterher. Deshalb haben wir gemeinsam mit der Fachhochschule Graubünden eine Studie in Auftrag gegeben, die unser gesamtes Leistungssportsystem – inklusive der finanziellen Förderung – kritisch analysiert. Ziel ist es, objektiv zu erkennen, wo wir nachbessern müssen, um keine Chance ungenutzt zu lassen.

Das LOC bietet Liechtensteiner Sportlerinnen und Sportlern Anstellungsverträge mit einem entsprechenden Einkommen an. Hat sich dieser Schritt schon bewährt?Die Zukunft des liechtensteinischen Sports ist meines Erachtens vielversprechend. Allein der aktuelle Bewerbungsprozess für die Athletenanstellungen beim LOC zeigt, wie viel Potenzial vorhanden ist: 25 junge Talente aus 13 verschiedenen Sportarten haben sich beworben – mit einem Durchschnittsalter von nur 22,1 Jahren. Das ist ein starkes Zeichen für die gute Arbeit unserer Verbände und für die Motivation der Athletinnen und Athleten, den Schritt in den professionellen Leistungssport zu wagen.

Diese jungen Menschen verzichten auf vieles – auf Freizeit, auf finanzielle Sicherheit, auf klassische Lebenswege –, um sich ganz ihrem Sport zu widmen. Umso entscheidender ist es, jetzt die richtigen Rahmenbedingungen zu bieten, damit sie sich ohne Existenzängste auf ihre Entwicklung konzentrieren können.

Besonders ermutigend ist die Vielfalt der Sportarten, die vertreten sind. Ob im Skisport, Mountainbike, Tennis, Schwimmen, Judo, in der Leichtathletik oder anderen Disziplinen: Überall gibt es junge Menschen, die mit Leidenschaft und Professionalität an ihre Grenzen gehen. Der Weg zu internationalen Medaillen ist lang und hart, und die Konkurrenz schläft nicht. Genau diese Breite und dieser Elan sind die beste Voraussetzung für Erfolge in den kommenden Jahren.

«Die Ausgangslage ist so gut wie lange nicht mehr.»

Dabei sollten wir nicht vergessen: Für einen Kleinstaat wie Liechtenstein ist bereits die Qualifikation für Olympische Spiele oder Weltmeisterschaften ein grosser Erfolg und ein Beweis dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Mit der richtigen Förderung, der gezielten Unterstützung und dem unermüdlichen Einsatz unserer Athletinnen und Athleten bin ich überzeugt, dass wir bald wieder internationale Erfolge feiern können. Die Ausgangslage ist so gut wie lange nicht mehr. Jetzt geht es darum, dieses Potenzial gemeinsam zu nutzen und weiter auszubauen.

Wie läuft dieses Auswahlverfahren und wer entscheidet letztlich?
Unser Anstellungsprogramm für Leistungssportler ist ein zentraler Baustein der Förderung, und es basiert auf einem klar strukturierten, transparenten und fairen Auswahlverfahren. Um sicherzustellen, dass die besten Talente mit den aussichtsreichsten Perspektiven unterstützt werden, haben wir ein breit aufgestelltes Gremium eingerichtet: Athletenvertreter, Vertreter der Sportverbände, der staatlichen Sportförderung und des LOC bewerten gemeinsam alle Bewerbungen. Diese Vielfalt an Perspektiven garantiert, dass die Entscheidungen nicht nur sportlich fundiert, sondern auch nachvollziehbar und gerecht sind.

Das Verfahren ist professionell organisiert. Nach der Einreichung der Bewerbungsdossiers werden die vielversprechendsten Kandidatinnen und Kandidaten in mehreren Runden ausgewählt. Dabei achten wir besonders auf ein stabiles, professionelles Umfeld von der Trainingsbetreuung bis zur medizinischen Unterstützung. Es handelt sich um ein langfristiges Kommittent für den Spitzensport im Sinne des Potenzials für internationale Erfolge, sei es bei Olympischen Spielen, Weltmeisterschaften oder anderen Titelkämpfen. Es ist uns dabei wichtig, dass die Ausgewählten nicht nur sportlich, sondern auch menschlich und beruflich nachhaltig begleitet werden. Am Ende steht eine Entscheidung, die nicht nur dem LOC, sondern dem gesamten liechtensteinischen Sport zugutekommt. Denn jedes Talent, das wir fördern, ist eine Investition in die Zukunft und eine Chance, unser Land wieder auf die internationale Bühne zu bringen.

Ein Kritikpunkt, der oft zu hören ist: Es fehlt beim LOC an einer gewissen Selbstreflexion, es ist kaum ein kritisches Wort zu hören. Sie stehst du dazu?
Selbstreflexion und kritische Auseinandersetzung sind für uns keine Fremdwörter, im Gegenteil: Sie sind zentraler Bestandteil unserer täglichen Arbeit. Intern analysieren wir regelmässig unsere Förderprogramme, die Zusammenarbeit mit den Verbänden und die Leistungen unserer Athleten. Dieser Prozess ist essenziell, um Schwächen zu identifizieren und kontinuierlich besser zu werden.

Darüber hinaus pflegen wir einen sehr engen und regelmässigen Austausch mit anderen Nationen, etwa mit der Schweiz, Luxemburg, Dänemark und weiteren. Dieser Prozess ist entscheidend, um Schwächen zu erkennen, internationale Best Practices aufzunehmen und das Sportsystem Liechtensteins kontinuierlich weiterzuentwickeln. Ein konkretes Ergebnis dieser Auseinandersetzung mit den Verbänden ist das Projekt Sportschule Liechtenstein 2.0. Ab dem Schuljahr 2026/27 führen wir neben dem bewährten Verbandsprofil einen neuen Zweig ein, der gezielt auf die polysportive und athletische Ausbildung von Nachwuchstalenten setzt. Diese Anpassung erfolgte in enger Abstimmung mit den Verbänden und Coaches, die uns klar signalisiert haben, dass dieser Bereich in der Vergangenheit zu kurz gekommen ist. Der neue Zweig schafft nicht nur bessere Entwicklungsmöglichkeiten für die Talente, sondern öffnet die Sportschule auch für Verbände, die bisher kein eigenes Programm anbieten konnten.

Ein weiteres Beispiel ist die Auseinandersetzung und Diskussion mit den Leistungssportverantwortlichen der Verbände über die strategische Ausrichtung der Athletenförderung. Gemeinsam haben wir die Frage erörtert, wie Liechtenstein mehr Athletinnen und Athleten für Olympische Spiele und andere Grossanlässe qualifizieren kann. Ein Lösungsansatz war die Fokussierung in der Förderung auf weniger Athletinnen beziehungsweise Athleten. Sozusagen ein Ausdünnen der Förderpyramide. Die Arbeiten daran haben wir bereits begonnen, und wir werden dies in den kommenden Monaten gemeinsam mit den Verbänden umsetzen.

Wir sind überzeugt, dass eine offene, konstruktive Diskussion im internen Rahmen den grössten Mehrwert für die Verbände, die Athleten und letztlich für den Sport in Liechtenstein bringt. Unser Ziel ist es, eine Umgebung zu schaffen, in der sich alle Beteiligten auf ihre sportliche Entwicklung konzentrieren können. Öffentliche Kritik kann schnell demotivierend wirken oder den Fokus von der eigentlichen Arbeit ablenken. Deshalb setzen wir auf einen lösungsorientierten Dialog hinter den Kulissen, der Raum für ehrliches Feedback und gezielte Massnahmen lässt. Gleichzeitig sind wir immer offen für den Austausch mit Medien und der Öffentlichkeit, um Transparenz zu schaffen und gemeinsam den liechtensteinischen Sport voranzubringen.

Stefan Marxer bei den Kleinstaatenspielen im Frühjahr in Andorra zusammen mit Luftgewehrschützin Leonie Mautz.

Ganz grundsätzlich: Wo steht der Sport in Liechtenstein derzeit im Vergleich zu früheren Jahren und wo steht er deiner Ansicht nach in etwa zehn Jahren?
Der liechtensteinische Sport steht heute vor einer klaren Realität. Wir können aktuell nicht an die Medaillenerfolge vergangener Jahrzehnte anknüpfen – insbesondere nicht an die goldenen Zeiten des alpinen Skisports oder die zeitweiligen Spitzenleistungen in anderen Disziplinen. Das liegt nicht an mangelndem Engagement oder Talent, sondern an den strukturellen Herausforderungen eines Kleinstaates: einer begrenzten Talentrekrutierung, einer global immer professioneller werdenden Konkurrenz und der natürlichen Schwankung zwischen sportlichen Hochphasen und Baisse-Zyklen. Doch diese Realität hat uns nicht gelähmt, sondern zum Handeln motiviert. In den vergangenen Jahren haben wir gezielt Förderstrukturen ausgebaut, Lücken zu anderen Nationen geschlossen und ein Umfeld geschaffen, das jungen Athleten den Schritt in den Profisport ermöglicht. Die Sportschule Liechtenstein 2.0, die Teilanstellungen für Spitzenathleten und die medizinische sowie finanzielle Unterstützung sind keine Selbstverständlichkeiten, sondern das Ergebnis einer konsequenten Weiterentwicklung. Gleichzeitig zeigt die hohe Zahl an Bewerbungen für unsere Förderprogramme, dass eine neue Generation bereit ist, den Weg in den internationalen Leistungssport zu gehen.

«Die Weichen sind gestellt.»

Liechtenstein war nie ein Land mit konstanter internationaler Dominanz – mit einer Ausnahme: dem Skisport. Doch selbst dort gab es nach jeder Erfolgsphase eine Durststrecke. Heute sehen wir jedoch, dass sich durch die vielseitige Förderung in verschiedenen Sportarten neue Chancen eröffnen. Wenn wir diese Opportunitäten konsequent nutzen, können wir in zehn Jahren wieder breiter aufgestellt sein – nicht nur im Skisport, sondern auch in Disziplinen wie Schwimmen, Mountainbike, Leichtathletik oder Radsport.

Der Schlüssel dazu liegt in vier Punkten:

  • Kontinuität: Wir müssen die begonnenen Massnahmen weiterführen und die Förderstrukturen stetig anpassen.
  • Internationale Kooperationen: Wir brauchen die richtige Infrastruktur, um auch ausländische Athletinnen, Athleten und Coaches in Liechtenstein willkommen zu heissen. Unsere zentrale Lage in Europa bietet dafür ideale Voraussetzungen und stärkt gleichzeitig unsere eigenen Strukturen.
  • Geduld: Erfolg im Spitzensport braucht Zeit, besonders in einem Land mit der Grösse Liechtensteins.
  • Zusammenarbeit: Nur wenn Politik, Verbände, Athleten und die Gesellschaft an einem Strang ziehen, können wir nachhaltige Erfolge erzielen.

Liechtenstein hat bewiesen, dass es Spitzenleistungen hervorbringen kann. Die Frage ist nicht, ob wir wieder international erfolgreich sein werden, sondern wann – und in welcher Sportart wir als Nächstes überraschen. Die Weichen dafür sind gestellt.